MÄDCHENBESCHNEIDUNG - HATU

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MÄDCHENBESCHNEIDUNG

T H E M A
In der Schweiz leben rund 15 000 Frauen aus Ländern, in denen Mädchenbeschneidung praktiziert wird.
Über die Hälfte dieser Frauen leidet an den physischen, psychischen und sozialen Folgen der Verstümmelung ihrer Geschlechtsorgane.

Noch heute kann sie weder ein scharfes Messer noch Blut sehen

Bis zu dreissig Frauen, die von Genitalbeschneidung betroffen sind,
behandelt das Schaffhauser Spital im Jahr
eine Betroffene berichtet.

Die Beschneidung der Mädchen wird oft mit einer Rasierklinge durchgeführt.

SCHAFFHAUSEN. Als die zwölfjährige D. Gebre* und ihre zwei Geschwister beschnitten werden sollten, haben ihre Eltern ein grosses Fest gefeiert. Aus der ganzen Stadt, die in Äthiopien liegt, kamen Frauen, Männer und Kinder zusammen. Sie brachten Geschenke, sangen, tanzten, die Trommeln schlugen dazu den Takt. «Es ist wie eine erste Hochzeit», sagt Gebre, «meine Eltern wollten mit dem Fest ihre Freude darüber ausdrücken, dass wir nun erwachsen würden.» Die Geschwister hatten eine unbestimmte Ahnung davon, was sie erwartete. Beschneidungen haben in vielen Teilen Äthiopiens als Initiationsritus eine jahrhundertealte Tradition. «Es bedeutet, du bist rein und kannst heiraten», sagt ¬Gebre, «vorher will dich kein Mann zu seiner Frau nehmen.» Religion, wie manchmal angenommen wird, habe damit recht wenig zu tun: Äthiopien ist ein multireligiöser Staat. Von Muslimen über christliche Religionen und orthodoxe Christen bis hin zu traditionellen Religionen – alle praktizieren FGM (Female Genital Mutilation).

Die WHO unterscheiden 4 Typen

Um 3 Uhr am Morgen wurden Gebre und ihre Geschwister, ein Bub und ein Mädchen, vorbereitet. Zur Entspannung massierte man sie mit wohlriechendem Öl. Weiterhin wurde zur Unterstützung der Kinder getanzt und gesungen. «Es lag aber auch eine Spannung, eine Angst über der Menge, dass bei der Zeremonie etwas schieflaufen könnte», sagt sie, «schliesslich hat jeder über deren Grausamkeit Bescheid gewusst.» Als die drei hinter einen Vorhang geführt wurden, standen dort Stühle – mehr Throne – bereit, die der Vater und die männlichen Mitgliedern der Familie eigens für diesen Moment gebaut hatten. Ausserdem wartete dort ein Mann aus der unteren Schicht. Er nahm die Beschneidung vor. «Diese Menschen haben bei uns kein so hohes Ansehen», sagt Gebre. Damit eine HIV-Infektion ausgeschlossen werden konnte, hatten die Eltern für jedes Kind eine Rasierklinge gekauft. Ansonsten ist es mitunter üblich, bei der Beschneidung mehrerer Kinder nur eine Klinge zu verwenden.

Schliesslich stellte sich ein Onkel hinter Gebre und legte seine Hände auf ihre Augen. Dann habe sie nur noch Schmerz verspürt.

An ihr wurde die erste und einfachste Form der Beschneidung – je nach Schweregrad unterscheidet die Weltgesundheitsorganisation vier Typen – durchgeführt: Dabei werden die Klitoris und die Klitorisvorhaut teilweise oder vollständig entfernt. Anschliessend sollten die Kinder hinter dem Vorhang hervorspurten, um der versammelten Festgesellschaft zu bedeuten, dass alles gut gegangen sei. Drei Stunden danach begannen ihre Arme und Beine unkontrolliert zu zucken. «Ich denke, so ähnlich fühlt sich ein Epilepsieanfall an», sagt Gebre. Es wurde ihr etwas zwischen die Zähne geklemmt, damit sie nicht auf ihre Zunge biss. Irgendwann sei sie dann eingeschlafen. Oder wurde sie ohnmächtig?

«Plötzlich fehlt etwas»

Heute sitzt Gebre, mittlerweile ist sie über 30 Jahre alt, vor ihrem Kaffee im «Falken» in Schaffhausen. Sie scheint ein lebhafter Mensch zu sein. Wenn sie redet und gestikuliert, baumeln ihre Ohrgehänge hin und her. Sie muss sich keine grosse Mühe geben, um sich an den Moment zurückzuerinnern, als sie, nach den Vorstellungen ihres Volkes, in die Erwachsenenwelt eingeführt wurde. «Ich habe das nie vergessen», sagt Gebre, «plötzlich fehlt etwas an deinem Körper.» Noch heute könne sie weder ein scharfes Messer noch Blut sehen. Dann erschrickt sie, und in ihrem Bewusstsein kommt alles wieder hoch, und im Intimbereich fühlt sie wieder den übermenschlichen Schmerz, den sie damals gespürt hat. «Dabei weiss ich, dass er nur in meinem Kopf ist», sagt sie.

Die Schmerzen damals hätten mehrere Tage angehalten. In dieser Zeit könne man, so Gebre, fast keine feste Nahrung zu sich nehmen, nur Flüssigkeit. Ausserdem würde sich die ganze Familie auch weiterhin Sorgen machen. «Sie haben darauf gewartet, dass man Wasser lässt», sagt sie, «dann erst weiss man wirklich: Alles ist gut gelaufen.»

Gebre ist im Kanton Schaffhausen kein Einzelfall. Zwar führt das Kantonsspital Schaffhausen keine Statistik, aber die Leitende Ärztin der Frauenklinik, Katrin Breitling, und Oberärztin Anna Villiger gehen davon aus, dass sie im Jahr bei fast 30 000 Konsultationen immerhin 20 bis 30 Patientinnen antreffen, bei denen in jungen Jahren eine Beschneidung durchgeführt wurde. Das Thema ist für die Ärztinnen nicht neu. «Ich arbeite seit gut 15 Jahren hier, wir haben schon immer Frauen mit Beschneidung gesehen», sagt Breitling, «allerdings gibt es Regionen in der Schweiz, wie etwa die Französisch sprechende Westschweiz, die durch die Migration mehr mit dem Thema Beschneidung zu tun haben.»

Weitreichende Folgen

Die betroffenen Frauen kommen hauptsächlich aus Ländern südlich der Sahara wie zum Beispiel aus Eritrea, dem Sudan, Somalia, Mali und Guinea, aber auch aus asiatischen Regionen wie Malaysia und Indonesien. Dort werde die Beschneidung in den allermeisten Fällen nicht hinterfragt. Entsprechend vorsichtig müssen die Ärztinnen auch bei ihren Patientinnen vorgehen. «In den Herkunftsländern wird die Beschneidung teilweise als etwas Positives gesehen. Sie kann für Reinheit, sogar für Schönheit stehen und erhöht das soziale Ansehen einer Frau», sagt Villiger, «in den Migrationsländern ist die Integrität des Körpers eine Selbstverständlichkeit, wodurch sich die betroffenen Frauen erst hier ihrer Verletzungen bewusst werden.» Deshalb ist es sinnvoll, das Thema bei einer Behandlung anzusprechen. Was nicht immer ganz einfach sei, da die Frauen teilweise kaum Deutsch sprächen. Eine interkulturelle Übersetzerin vom Haus der Kulturen hilft dann weiter.

Die weibliche Genitalbeschneidung ist in der Schweiz per Gesetz verboten, und die Tat steht unter Strafe, egal wo die Beschneidung durchgeführt wurde. Aus medizinischer Sicht, da ist sich die Fachwelt einig, gibt es keine Gründe, Beschneidungen an Frauen vorzunehmen.

Der Islamische Zentralrat Schweiz (IZRS) widerspricht dem mit seiner Forderung, indem er die einfachste Form der Verstümmelung weiblicher Genitalien, die Entfernung der Klitorisvorhaut, jüngst verteidigte. Als Begründung führt der IZRS verschiedene Zitate aus der Prophetentradition an. Deren Authentizität ist aber zum Teil nicht über alle Zweifel erhaben. Das gibt der IZRS in einer Fussnote seiner Stellungnahme selber zu.

Eine Beschneidung kann indes weitreichende Folgen haben. «Von Problemen beim Wasserlassen bis hin zu Blutungsstörungen sowie Schmerzen während der Periode und Schwierigkeiten beim Geschlechtsverkehr», sagt Breitling. «Manchmal führt eine Beschneidung sogar zu Sterilität», fügt Villiger hinzu, «die aufgrund gehäufter Infektionen ausgelöst wurde.» Beschneidungen werden weder von Fachpersonal noch mit sterilen Instrumenten vorgenommen. Die Gefahr einer Infek¬tionskrankheit wie zum Beispiel mit HIV steigt, wenn mehrere Mädchen mit den gleichen Instrumenten beschnitten werden.

Probleme ergeben sich auch, wenn eine Frau ein Kind erwartet. «Es kommt vor, dass Frauen während einer Schwangerschaft nicht genügend essen, damit die Babys nicht zu gross werden und die Schmerzen bei einer vaginalen Geburt nicht so stark sind», sagt Breitling. Das sei natürlich für das Baby und die Frau schlecht. Eine Beschneidung habe aber auch Auswirkungen auf den Geburtsmodus. So könne sich die Austreibungsphase verlängern, und Geburtsverletzungen seien durch die bereits vorhandenen Narben häufiger und komplizierter. Das Risiko für eine Kaiserschnittentbindung ist erhöht.

Sie setzt sich gegen FGM ein

Auch Gebre sind all diese Aspekte heute bekannt: Bevor sie als junge Erwachsene zum Arbeiten nach Europa kam, hatte sie eine Art Erweckungserlebnis. Auf dem Internat, mit Anfang zwanzig, hat sie ihr Zimmer mit einer anderen Äthiopierin geteilt. Diese kam aus einem Kulturkreis, in dem keine Beschneidungen durchgeführt werden. Nach etwas Zögern fragte die Mitbewohnerin Gebre einmal: «Bist du eigentlich beschnitten?» Gebre bejahte das. Es war ein kleiner Schock, und zwar für beide. «Für mich war das bis dahin ja ganz normal», sagt sie. Ab diesem Zeitpunkt habe sie erst richtig verstanden, was ihr angetan worden sei. Seit sie in der Schweiz ist, unterstützt sie verschiedene Projekte, die sich hierzulande der Aufklärung über FGM verschrieben haben. Terre des Femmes geht in der Schweiz immerhin von 10 000 bis 13 000 betroffenen Mädchen und Frauen aus. «Betroffen» bedeutet, dass diese bereits beschnitten oder gefährdet sind, beschnitten zu werden. Letzteres kann gesetzwidrig in der Schweiz erfolgen, oder die Mädchen werden ins Ausland gebracht.

Ihren Eltern hat Gebre übrigens nie einen Vorwurf gemacht. «Es war damals einfach ein Teil ihrer Kultur», sagt sie, «etwas, das von Generation zu Generation weitergegeben wurde.» Was aber nicht bedeute, dass man das heute nicht ändern könne. So sei ihre jüngste Schwester noch nicht beschnitten. Gebre hofft, dass das auch so bleibt.

* Name der Redaktion bekannt

86 Millionen Mädchen sind schätzungsweise bis zum Jahr 2030 dem Risiko der genitalen Verstümmelung ausgesetzt. Man geht davon aus, dass jeden Tag etwa 8000 Mädchen verstümmelt werden. Das UNO-Kinderhilfswerk schätzt, dass rund 125 Millionen Mädchen und Frauen auf der ganzen Welt mit den Folgen des Eingriffs leben.

Beschneidung in Europa

Wenig bekannt ist, dass Ärzte auch in Europa und Nordamerika bis ins 20. Jahrhundert noch Beschneidungen an Frauen vorgenommen haben. Die Mediziner wollten damit alle möglichen Leiden kurieren, von der damals verteufelten Onanie bis hin zu Epilepsie, Hysterie, Melancholie, aber auch Schulschwänzen oder Kleptomanie. So hat zum Beispiel der englische Arzt Isaac Baker Brown in den 1860er-Jahren die Klitorisdektomie, also die völlige Entfernung der Klitoris, regelrecht probagiert – als Allheilmittel für alle möglichen Leiden. (mcg)

     Qelltext  SHN Freitag, 16. März 2018
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